Purpose oder Ponyhof?

Wenn ich morgens beim Zähneputzen das Wasser abstelle, rette ich die Welt. Mein Kaffee rettet die Welt, denn er ist fair gehandelt. Ich fahr nicht mit dem Auto, sondern mit dem Fahrrad zur Arbeit, das rettet die Welt. Mein Arbeitgeber gleicht alle meine Inlandsflüge aus, denn auch er rettet die Welt. Meine Kollegen retten die Welt, wenn wir beim Firmenlauf mitmachen (1 Baum pro 10 km) und danach zusammen Bier trinken (1 Baum pro Kiste). Ich würde inzwischen nichts mehr tun, was die Welt nicht rettet. Muss ich auch nicht: vom Ölkonzern bis zur Frittenbude haben jetzt alle ihren Purpose gefunden und verbessern 24/7 die Welt.

Ja klar.

Wer nach 2020 immer noch gerne Bullshit hört, kann hier mit dem Lesen aufhören. 

Zuerst: Es gibt keinen Beleg dafür, dass Unternehmen mit Purpose erfolgreicher sind; noch weniger, dass der Purpose wirklich zum Erfolg beiträgt. Also was tun?

Ich habe selbst jahrelang daran mitgearbeitet, dass ein nordhessischer Heizungshersteller seinen Purpose findet und lebt. Mit brennendem Herzen, Hoffnungen und Enttäuschungen,  wie das so ist in der Realität. Für ein Unternehmen, das seine Produktpalette von CO₂-Erzeugung auf CO₂-Vermeidung umstellen muss, ist ein Purpose naheliegend. Hier hieß es, die Veränderung anzunehmen, bevor sie von Politik und Gesellschaft erzwungen wird. Was aber, wenn das eigene Unternehmen SaaS für Fintechs anbietet? Oder Verbindungstechnik in Unterwasser-Anwendungen? Macht da die Sinnfrage selber Sinn*?

„Purpose“ wird immer erzählt als „Unternehmensziel, das gesellschaftlich relevant über das Monetäre hinausgeht“. Welche Zielgruppen, wie viel Umsatz, wie viel Gewinn würden Sie freiwillig aufgeben, um dem Purpose zu verfolgen? Denn: Ohne konkretes Handeln ist ein Purpose nur Lippenbekenntnis und PR-Phrase.

Gesellschaftlich gesehen ist ein Unternehmen erfolgreich, wenn es Steuern zahlt und seinen Stakeholdern, den Eigentümern und Angestellten, ein Auskommen ermöglicht, damit die ihre Kinder im Sommer auf den Ponyhof schicken können – nicht mehr, nicht weniger**.

Ja, wir alle wollen morgens für mehr aufstehen als für den nächstgrößeren Firmenwagen, das nächste Objective und Key Result. Das betrifft nicht nur die Generation Z (nebenbei gesagt ein Bullshit-Konzept), sondern gerade die gesuchten, hochqualifizierten, hochmotivierten Mitarbeiter. Dieselben Leute haben auch einen Riecher für Bullshit und hohle Phrasen wie „Wir machen die Welt zu einem besseren Ort durch SaaS für Router”.

Aber was kann das sein? Sinn finden wir im Tun, oder wir stiften ihn. Wir finden Erfüllung darin, Tätigkeiten zu meistern. Wir streben (und das zeigen Lockdown und Seashantytoks) danach, Teil von etwas Größerem zu sein. Wir suchen Orientierung für unser Leben. Dabei ist es unmöglich, dies allein, für sich selbst, auf jeden Tag neu zu (er)finden. 

Ja, der Job kann und darf mehr sein als reiner Lohnerwerb. Ja, ein Unternehmen kann einen Beitrag dazu leisten. Dann muss es aber wissen: Was macht es, und was macht es eigentlich aus? Kurzer Check: Können Sie Ihr Unternehmen in einem Satz auf den Punkt erzählen? Was würde der Welt fehlen, wenn Ihr Unternehmen verschwindet?

Wir nennen die Antwort auf diese Frage „Narrativ”.

“To organize the world’s information and make it universally accessible and useful.”

Google

“Build the best product, cause no unnecessary harm, use business to inspire and implement solutions to the environmental crisis.”

Patagonia

“Spread ideas.”

TED

“Saving people money so they can live better.”

Walmart

Purpose und Company Values, Mission Statement oder Value Proposition: Im Prinzip kann das Narrativ all das sein***. Viel wichtiger: Seien Sie mutig, authentisch und präzise. 

Mutig, weil es darum geht, die Zukunft herauszufordern statt den Status Quo zu vertreten. 

Authentisch, denn es muss zu Ihnen und Ihrem Unternehmen passen, um glaubwürdig und machbar zu sein. Deswegen versuchen wir stets, das Narrativ im Unternehmen zu finden, bevor wir es erfinden. 

Präzise im Sinne von „So genau wie nötig, so frei wie möglich.“ Damit das Narrativ die Vorstellung anregt, aber nicht einengt. Um es am Beispiel von Microsoft zu zeigen:

“A computer on every desk and in every home.”

Bill Gates, 1974

“Create a family of devices and services for individuals and businesses that empower people around the globe at home, at work and on the go, for the activities they value most.”

Steve Ballmer, 2013

“Empower every person and every organization on the planet to achieve more.”

Satya Nadella, 2015

Die Form des Narrativs ist die Geschichte, und wie jede Geschichte hat sie mindestens diese drei Elemente: einen Akteur, einen Konflikt und eine Handlung als Bewegung in eine Richtung.

Die drei Elemente einer Geschichte: Akteur, Konflikt und Bewegung
Diese drei Elemente muss eine Story haben

Und nein, nicht jedes dieser Elemente muss im gesagten Satz explizit vorhanden sein – Kopfkino, das eigene Ausfüllen der Leerstellen, ist immer ein starkes Element der Identifikation. Was sind wohl Akteure und Konflikt bei “Spread ideas”?

Das Narrativ ist die Erzählungen vom Unternehmen, dessen Produkt und den Menschen dahinter. Es leuchtet als Nordstern, ob in der Markenführung, der Produktentwicklung oder beim Recruiting. Denn so sehr Menschen einen feinen Sinn für Bullshit haben – so sehr lassen sie sich von einer guten Erzählung begeistern. Ganz gleich, zu welchem Thema, ob Purpose oder Ponyhof.

* Ja, das ist ein Anglizismus. So sue me.
** Wie so oft Dank an Matthias Schrader für die Inspiration
*** Wenn Sie die Fleißaufgabe abarbeiten und alle Kästchen ausfüllen, werden Sie eher verwirren als präzisieren. Niemand kann im täglichen Business die feinen Unterschiede beachten, die während des Workshops noch so klar erschienen.